Tagebuch eines Morgenwanderers

Die Nacht durchwacht, der Morgen naht, Pascow in den Ohren, was sonst tun als raus zu gehen, dem Sonnenaufgang hinterher zu jagen, um der Müdigkeit zu entgehen, und den Tag zu begrüßen? Ein Tagebucheintrag eines Morgenwanderers.
05.45 Uhr:
Es ist still, nur durch meine Kopfhörer dröhnt Pascow penetrant nach draußen. Eben dort beginnt der erste Funken blau in den Himmel zu schießen. Die blaue Stunde beginnt, ich mache mich bereit, die Kameratasche wird gepackt. Ich setze mich ans Fenster und sehe zu, wie der Himmel immer blauer wird. „Himmelblau“ schwirrt mir durch den Kopf, ich kontrolliere erneut die Zeiten, die Akkus, die Tasche, und warte ungeduldig auf meinen Einsatz. Ich durchsuche Flickr nach Inspiration, an die ich sowieso nicht denken werde, sobald die Kamera in meiner Hand liegt.
06.15 Uhr:
Zu viel Zeit vertrödelt, Tasche über die Schulter geworfen, aufs Rad geschwungen und losgefahren. In Richtung See, die Sonne im Rücken, noch 25 Minuten bis Sonnenaufgang. Auf dem Weg fällt mir der dichte Bodennebel auf, der sich langsam verflüchtigt. Einzig allein die Strommästen bleiben der düsteren Atmosphäre gegenüber standhaft. Das Feld ist voller Reif, keine Menschenseele weit und breit, noch nicht einmal Vogelzwitschern hört man hier.
06.25 Uhr:
Am Seehaus, die Sonne steht knapp unter dem Horizont, alles wirkt wie ausgestorben. Nur die Vögel unterbrechen die Stille, die mit dem kalten Tau über der Landschaft liegt. Die Gaststätte und der Spielplatz liegen wie ausgestorben da, und erwecken eine post-apokalyptische Atmosphäre. Auch wenn die Sonne schon die ersten Zentimeter erhellt, hier ist sie noch lange nicht angekommen, hier herrscht noch Beklemmen, grau und blau. Raben sehen mir zu, wie ich fotografiere, und krächzen unruhig. Ich warte auf die Wärme der Sonne.
06.40 Uhr:
Die Sonne wagt sich über den Horizont, die Szene lockert sich, und auch die ersten Jogger drehen ihre Runden. Die Raben gehen unter in den Gesängen dutzender Singvögel. Ich sehe mich nach neuen Motiven um, und erblicke die zugeklebten Mülltonnen auf der Wiese stehen. Selbst sie erstrahlen nun fast in ästhetischem Glanz, zusammen mit den Sonnenstrahlen, die den Nebel auf dem See lichten. Die Maulwurfhügel durchziehen die gesamte Liegewiese, und ergeben einen schönen Pfad.
Der See liegt tot und still da, einzig ein paar wenige Enten durchbrechen die Ruhe. Der sich lösende Nebel schwebt über der Wasseroberfläche und lässt die Sonnenstrahlen sich in ihm brechen. Inzwischen ist es wärmer geworden, man kann die Sonne spüren, und auch der Ort verändert sich, alles wirkt weniger bedrohlich, mehr freundlich und einladend. Selbst ein Hase huscht am Waldrand vorbei, sowie zwei Raben, die scheinbar beobachten, ob ich etwas essbares dabei habe, was ihnen schmecken könnte.
07.00 Uhr:
Das Fahrrad wird zu umständlich, der Weg geht zu Fuß weiter. In Blickrichtung zur Sonne wirkt alles gleißend hell und warm, sobald man sich aber von ihr abwendet, macht sich wieder die alte Kälte breit, dort, wo die Sonnenstrahlen sich noch nicht hingewagt haben. Der Basketballkorb stand noch im Schatten hinter Bäumen, und man hätte fast denken können, die Sonne wäre noch nicht aufgegangen, wären da nicht die Schatten und hellen Lichter im Hintergrund.
07.30 Uhr:
Tiefer im Wald wird es etwas dunkler, und geheimnisvoller. Ein kleiner Tümpel erweckt mein Interesse. Er ist durchzogen von Baumstämmen und Ästen, sowie Moos und vielfältigen Pflanzenarten. Er ist noch ruhiger als der See, doch vereinzelt erkennt man immer wieder kleine Luftbläschen aufsteigen. Ich sehe weiter über die gefrorene Oberfläche, und je länger ich sie ansehe, desto mehr kann man Gesichter erkennen; Gesichter, die unter dem Eis herausblicken. Ich blinzle und schüttele mich einmal, die Gesichter sind weg. Zeichen der Übermüdung denke ich. Trotzdem entferne ich mich schnell.
Innerhalb von weniger als zwei Stunden kann sich ein Ort verändern, die gesamte Situation und mit ihr alle Gefühle, die mit ihr in einer Photographie in Verbindung gebracht werden könnten. Deshalb ist für mich Warten und Beobachten für die Photographie eines der größten und hilfreichsten Werkzeuge, neben der Kamera und vor allem dem eigenen Auge, versteht sich. Wie seht ihr das?
Valentin Diehl
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